DIE ERKENNTNIS, DASS KAPITALISMUS UND PATRIARCHAT EINE GEWALTVOLLE WIRKLICHKEIT ERSCHAFFEN, SOLLTE TÄGLICH ZU GANZ PRAKTISCHEN HANDLUNGEN FÜHREN
Ein Gespräch mit der Regisseurin Nina Gühlstorff
Dein Projekt bei uns am WERK X heißt „Weiberrat. Eine Machtergreifung“ und setzt sich in erster Linie mit der 2. Wiener Frauenbewegung, deren Kämpfen und Erfolgen – auch Misserfolgen – auseinander. Wie kamst du auf dieses Thema?
Ich habe mich im Zuge eines Projektes über „Links sein“ mit der 68er-Bewegung beschäftigt und habe u.a. auch eine Frau interviewt, die in einem sogenannten „Weiberrat“ war und die mir eine Welt eröffnet hat: Sie konnte anschaulich erzählen, wie sich 1968 natürlich erst eine linke Bewegung formiert hat und die beteiligten Frauen aber sehr schnell gemerkt haben, dass sie wieder nicht zu ihren Rechten kommen und dann sind die „Weiberräte“, besonders auch in Frankfurt, gegründet worden. In dem Gespräch mit dieser Frau, Sibylla Flügge heißt sie, hatte ich den Eindruck: Ihre Geschichten spiegeln zeitgenössische Diskussionen über das Patriarchat, den Feminismus und so weiter wider, aber alles ist mit einer großen Klarheit formuliert, die Forderungen präzise. Vielleicht ist es wie oft so, dass am Anfang von Bewegungen Fragen viel klarer formuliert sind. Und ich habe gedacht, dass ich mir das noch mal genauer anschauen möchte. Es gibt diesen Satz „Wir stehen auf der Schulter von Riesinnen“ – und in dem Fall sind die Riesinnen die 2. Frauenbewegung. Und gerade hier in Wien gab es ja diese ganze Bewegung um den Wiener Aktionismus, Valie Export und so. Das waren so Ahnungen, die ich hatte. Und habe ich zu Beginn meiner Recherchen sehr schnell gemerkt: „Oh, es gibt in Wien nicht nur Valie Export“. Es gab die Aktion Unabhängiger Frauen (AUF), die sich außerparlamentarisch auf der Straße für Frauenrechte eingesetzt haben. Und es gab natürlich Johanna Dohnal und auch viele parteiorganisierte Frauen, die eine ganz tolle und sehr spannende Allianz gebildet haben. Auf der Straße wurden die Anliegen adressiert und im Parlament wurden sie dann durchgesetzt. Vieles von dem damals erkämpften ist uns vielleicht gar nicht mehr so klar. Manchmal merken wir, dass man denkt, „Uh, dass muss doch bestimmt schon hundert Jahre her sein, dass die Frauen selbst entscheiden durften, ob sie sich scheiden lassen oder nicht.“ Aber nein, in der Generation unserer Eltern oder Großeltern sind viele Sachen erst durchgekämpft worden, von denen wir heute wie selbstverständlich profitieren. Und was interessant ist, ist, dass die Frauen natürlich auch eine Machtfrage gestellt haben und ganz selbstverständlich Gleichberechtigung eben nicht nur auf dem Papier wollten, sondern in allen Bereichen der Gesellschaft. Und diesen Kampf führen wir ja bis heute.
In deiner Uraufführung „Weiberrat“ spielen drei Schauspieler*innen, eine Musikerin und drei ältere Damen, letztere waren damals Protagonistinnen bei der AUF. Wie bist du auf die drei gestoßen? Wie kam das Projekt zustande?
Als wir gemeinsam mit der Dramaturgin Hannah Egenolf angefangen haben zu recherchieren, sind wir sehr schnell auf ein Buch über die genannte „Aktion Unabhängiger Frauen“ hier in Wien gestoßen: „Liebe, Macht und Abenteuer“ heißt es. Als erstes haben wir eine der Herausgeberinnen interviewt, die feministische Soziologin Nadia Trallori. Damals haben wir sie interviewt, heute steht sie bei uns auf der Bühne. Das heißt, wir haben Frauen, die wir interviewt haben, Stück für Stück dann auch für das Projekt angefragt. Wir haben gemerkt, wie kämpferisch diese Frauen sich bis heute positionieren, beziehungsweise wie sehr sie bis heute von dieser Zeit gedanklich profitieren. Und dieses Profitieren wollen wir mit unserem Publikum teilen.
Hast du schon während der Recherchephase oder auch jetzt im Probenprozess für dich neue Erkenntnisse gewonnen? Was können wir lernen von dieser Generation?
Vielleicht muss man nochmal sagen, dass wir uns zwei Aufgabenstellungen gestellt haben in dieser Zeit. Das eine war der Blick auf die 70er-Jahre, aber natürlich – weil wir als Theaterschaffende auch immer über das Heute erzählen wollen – haben wir auch Feministinnen von Heute interviewt. Das heißt, es gibt eine interessante Gegenüberstellung von den damaligen Positionen und wie diese sich heute in den Ideen spiegeln und inwieweit sich da auch Linien ergeben. Das heißt, ich kann sagen, diese Recherche hat mich in ganz vielen Teilbereichen verändert. Es gab einen unglaublichen Wissenstransfer der älteren Damen und ich habe meine eigenen Haltungen an ihren Haltungen schärfen können. Und ich hoffe, dass wir dieses Gefühl, dass man im Blick zurück auf das Erkämpfte schaut, dass man das eben auch für die heutigen Kämpfe bewahren kann. Ich habe gleichzeitig – weil ja heute viel über die queerfeministische Bewegung gesprochen wird – viel gelernt über die verschiedenen Feminismen. Ich erinnere mich, dass ich selbst am Anfang immer gesagt habe, dass ich eine Wald-und-Wiesen- Feministin bin. Das hat sich inzwischen sehr ausdifferenziert. Ich habe gelernt, dass viele der ganz konkreten Forderungen schon eine ganze Weile bestanden haben, Forderungen zum Thema Altersarmut, alleinerziehende Frauen, Gewalt gegen Frauen oder überhaupt gegenüber marginalisierten Gruppen und sie gleichzeitig geradezu täglich erkämpft werden müssen. Und dass die Erkenntnis, dass Kapitalismus und Patriarchat eine gewaltvolle Wirklichkeit erschaffen, täglich zu ganz praktischen Handlungen führen sollte. Das ist nicht immer schön. Man möchte ja eigentlich in einer guten Zeit leben.
Du bist Regisseurin, arbeitest für Schauspiel- und Musiktheater, und für das Schauspiel arbeitest du vornehmlich im Bereich des dokumentarischen Theaters. Wie definierst du diese Art des Theatermachens für dich?
So wie es viele Feminismen gibt, gibt es natürlich auch viele Arten dokumentarisch zu arbeiten. Für mich bedeutet dokumentarisches Theater, gemeinsam mit einem Team von mündigen Menschen welthaltiges Theater zu machen. Ich möchte Diskurse und Lebensrealitäten die zeitgenössisch sind, auf der Bühne abbilden. Das bedeutet konkret, dass ich die Interviews nicht nur als Inspiration nutze, sondern dass die Schauspieler* innen tatsächlich Interviewausschnitte auf der Bühne wiedergeben. Natürlich kontextualisieren wir das, aber ich versuche dadurch, dass man eine Perspektive auf einer Bühne nochmal anschaut, Verständnis für diese Perspektiven zu generieren. Vielleicht ist man selbst nicht feministisch eingestellt, aber wenn man eine starke Perspektive von jemandem bekommt, der, um jetzt beim Beispiel zu bleiben, aus der Zeit der 2. Frauenbewegung kommt, dass man da eigene Handlungsoptionen erhält. Heute wird immer davon gesprochen, dass man Narrative schaffen muss, um eine andere Zukunft zu erschaffen. Und natürlich sind Perspektiven genau das: Sie ermöglichen einen anderen Blick auf die Welt. Im besten Fall hat das Publikum von dokumentarischem Theater nachher das Gefühl, dass es Dinge, die der eigenen Lebensrealität fremd sind, besser versteht und vielleicht empathischer mit anderen Lebensrealitäten und Meinungen umgehen kann. So geht es mir. Ich lerne Schärfe und Milde zugleich. Was vielleicht noch interessant ist: Ich glaube, es gibt in jeder Produktion Bücher, die so eine Art Bibel werden. Bei uns war das so, dass wir das Buch „Caliban und die Hexe“ von Silvia Federici für uns entdeckt haben. Federici versucht, einen Zusammenhang aufzumachen zwischen Frauenfeindlichkeit und Kapitalismus, sie denkt Patriarchat- und Kapitalismuskritik zusammen. Und wir reden heute viel von Intersektionalität, das heißt, wir versuchen Dinge wie Diskriminierung gegen Frauen, Diskriminierung gegen POC und Herausforderungen der Klimakrise zusammen zu denken. „Fridays for Future“ positioniert sich inzwischen ja auch intersektional. Feminismus ist also Transformationspolitik. Es bedeutet nicht nur Geschlechtergerechtigkeit, sondern eine herrschaftsfreiere Welt. Daher trifft Chimamanda Ngozi Adichies Satz zu: „Everyone should be a feminist“.
Das Interview mit Nina Gühlstorff ist ein Originalbeitrag für das Programmheft „Weiberrat. Eine Machtergreifung“. Die Fragen stellten Hannah Lioba Egenolf und Marie-Louise Fürnsinn.