Im Gespräch mit Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen

Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ hatte 1931 in Berlin seine Uraufführung und war dort ein voller Erfolg. In Österreich wurde das Stück erst 1948 aufgeführt und fiel bei Publikum und Presse durch. Was interessiert euch an Ödön von Horváth bzw. speziell an diesem Stoff und wie nähert ihr euch ihm an?

Monika Gintersdorfer: Zunächst war es ein Vorschlag des Theaters. Aber wir fanden Horváth schon von Anbeginn toll beim Lesen, besonders die Sprache – die zum einen wiedergibt, was die Leute reden und gleichzeitig aber auch noch immer eine psychologische Dimension zum Vorschein bringt.
Anfangs hatten wir überlegt, „Jugend ohne Gott“ zu machen, wenn nicht auch Nino und Natalie sehr für „Geschichten aus dem Wiener Wald“ plädiert hätten. Das hat wohl damit zu tun, wie stark sich der Stoff in Österreich bei den Leuten eingeprägt hat, und welch tolle Schauspieler*innen das schon gespielt haben, sodass die beiden viel Lust hatten, das zu machen.
Wir versuchen jetzt immer wieder das Stück nachzuerzählen – auch in den Songtexten von Nino und Natalie kommen viele Originaltexte vor. Wenn man etwas vorgeschlagen bekommt, an das man selbst vielleicht gar nicht gedacht hätte, es zu inszenieren, ist das auch mal ganz gut.

Musik spielt bei euren Arbeiten immer eine wichtige Rolle. Bei uns werden diesmal Natalie Ofenböck und Der Nino aus Wien auf der Bühne stehen. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?

Knut Klaßen: Wir hatten das Angebot bekommen, hier ein Stück zu machen und dazu dann gleich die Idee, dass wir mit Performer*innen von uns kommen und die treffen auf Schauspieler*innen/ Performer*innen von hier. Und die tollsten, die man treffen kann in Wien, wären Nino und Natalie, auch wegen des „Grünen Albums“ und wegen „Krixi, Kraxi und die Kroxn“.
Das sind einfach zwei, die freien Text machen können und direkt und schnell reagieren. Diese Wienerlieder oder die Songs vom Nino aus Wien sind ganz anders als Coupé-Decalé [Anm.: Coupé Décalé (oder Couper-Décaler-Travailler) ist eine Musik- und Tanzform, die 2003 in der Pariser Diaspora von Musikern aus der Elfenbeinküste kreiert wurde.], die Lieder haben immer auch einen Bruch. Es ist im Übrigen nicht so, dass hier starke Gegensätze aufeinanderprallen – es ist vielmehr so, dass wir sehr starke eigenkünstlerische Positionen gemeinsam auf der Bühne haben – da gibt es wirklich eine hohe Gemeinsamkeit.

Ein inhaltlicher Schwerpunkt der Arbeit an „Geschichten aus dem Wiener Wald“ liegt auf der Auseinandersetzung mit der Rhythmischen Sportgymnastik. Wie kam es dazu?

Monika Gintersdorfer: Es gibt diesen Text von Marianne, wo sie sagt: „Ich wollte mal rhythmische Gymnastik studieren, und dann hab ich von einem eigenen Institut geträumt, aber meine Verwandtschaft hat keinen Sinn für so was. Papa sagt immer, die finanzielle Unabhängigkeit der Frau vom Mann ist der letzte Schritt zum Bolschewismus.“ Und das fand ich schon eine starke Aussage, wie da so etwas verknüpft wird.
Das kennt man ja heute noch, dass wenn etwas abweicht vom Mainstream, dass das schnell als kommunistisch oder marxistisch gebrandmarkt und in gewissen Kreisen disqualifiziert wird. Den Verweis auf die rhythmische Sportgymnastik habe ich gemocht, weil er natürlich auf eine Bewegungsform hinweist. Ich habe als Jugendliche selbst mal rhythmische Sportgymnastik gemacht und dann nie wieder. Es ist klar, dass es total schwierig ist, aber es hat auch irgendwas, es ist so ein Mädchentraum.
So wie die rhythmische Sportgymnastik heute aussieht, machen das fast nur Frauen und die sind stark geschminkt, haben Knoten, und gestreckte Füße. Wenn man daran denkt, das mit unserer Gruppe zu machen, dann sind wir sehr weit weg davon – und es kann genau deswegen auch lustig sein. Wir beschäftigen uns mit Bewegungsformen und Tanzformen als Sprache. Rhythmische Sportgymnastik liegt zwischen Sport und Tanz und dann kommt als drittes noch das Gerät dazu. Das erinnert uns daran, dass wir öfter Materialtänze gemacht haben, das heißt Knut hat ein Material gegeben, mit dem man normalerweise nicht tanzt – das konnte ein Grabenstampfer, Bambusstangen oder Haargel sein – und wir haben dann eine Reihe von Materialtänzen entwickelt. Wir haben uns dann gefragt, ob diese rhythmische Sportgymnastik nicht vielleicht auch eine Art von Materialtanz ist, da sie mit schwierig zu handhabenden Geräten arbeitet. Es war aber schnell klar, dass wir nicht versuchen werden, dem Original genau nachzugehen, sondern das durch eigene Ästhetiken ersetzen und gendermäßig umpolen. Das war für mich ein erster Ansatzpunkt, einer, der nicht über Sprache geht, sondern der über etwas Physisches geht. In der Recherche hat sich dann herausgestellt – was wir vorher nicht wußten – dass die rhythmische Erziehung, also nicht nur die rhythmische Gymnastik, sondern das Konzept der rhythmischen Erziehung nach Émile Jaques-Dalcroze, ein Riesending war in der Zeit, bei der man versucht hat, sich von Zwängen zu befreien: Geschlechterzwängen, gesellschaftlichen Zwängen, dem Nationalismus und Egoismus. Da steht eine Weltanschauung dahinter, die sich über Hellerau und dann Laxenburg – das sind Orte, an denen zu der Zeit berühmte Institute ihren Sitz hatten – weitergeführt hat. Das sind Spuren, die wir gerade entdeckt haben und denen wir jetzt nachgehen.
Zunächst klingt es ja so ein bisschen wie ein Scherz, dass man im „Wiener Wald“ die Gymnastik als das Wichtigste empfindet, aber dass sich das dann nachher wirklich so einlöst, dass es so viele Bezüge gibt, wie diese Pervertierung der Gymnastik durch den Auftritt im Maxim, als Sexclub oder als Stripteaseclub, oder auch durch die Militarisierung der Gymnastik.

Seit ca. 15 Jahren arbeitet ihr unter dem Label Gintersdorfer/Klaßen zusammen. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit und was macht eure Arbeit aus? Wie würdet ihr das selbst beschreiben?

Knut Klaßen: Die Zusammenarbeit kam zustande, weil wir vorher in anderen Kontexten gearbeitet haben, sich aber alle Personen untereinander kannten. Es gab ein Projekt, welches Monika mit Jochen Dehn gemacht hat, „Rekolonisation“. Und dieser Jochen Dehn war einer meiner besten Freunde von der Kunsthochschule und so bin ich da mit reingekommen, habe gefilmt, und dann haben wir auch gleich angefangen, Projekte zusammen zu machen. Wir haben zu dritt gearbeitet und unsere Zusammenarbeit ist daraus entstanden, dass wir nicht geplant haben, 15 Jahre zusammen zu arbeiten, sondern eher daher, dass wir einfach angefangen haben. Wir haben mit Stadtprojekten angefangen, die mehr Performance-orientiert waren, dann aber auch am Stadttheater weitergearbeitet oder in der Freien Szene und dann immer internationaler. Gleich zu Anfang kam Franck Edmond Yao dazu und wir sind so langsam eine Gruppe geworden.

Monika Gintersdorfer: Das Ganze hat sich eigentlich aus einer Szene in Hamburg heraus entwickelt. Da gabs einen Straßenzug in der Adenauerallee, der war in der Zwangsverwaltung und man konnte billig mieten. Das heißt, es gab da unheimlich viele Leute und ich habe zusammen mit Bobwear, einem ivorischen Fashiondesigner, ein Atelier gemietet und Knut hat schon die Ausstattung dieses Ateliers gemacht. Nebenan gab es einen Telefonladen und ein afrikanisches Restaurant, einen türkischen Sportverein, iranische Lebensmittel und eine Moschee. An einem Wochenende konnten bis zu tausend Personen zusammenkommen und wir hatten viele verschiedene Aktivitäten zusammen, u.a. auch einen Deutschkurs, über den Knut und ich dann einen Film zusammen gemacht haben.

Knut Klaßen: Vielleicht war das unser erstes gemeinsames Projekt, oder?

Monika Gintersdorfer: Ja. Oder aber der Film über den Brunnen. Mit meiner Gruppe „Rekolonisation“ haben wir Aktionen aus den Bereichen Handel, Kämpfe oder Flucht gemacht. Und unter die Ressourcen fiel Trinkwassergewinnung. Da haben wir einen Brunnen gegraben, aber nur mit Händen und Löffeln und haben daraus einen Film gemacht und Knut hat mir geholfen, wie man den schneidet.

Knut Klaßen: Wir haben einfach drauflosgearbeitet und uns über den Namen oder wie diese Gruppe strukturiert sein soll gar nicht so viele Gedanken gemacht. Das mit dem Namen kam dann, als ich eine Website machen wollte, und die Frage war, welche Domain wir jetzt eigentlich haben wollen. Kurz vorher waren wir an der Volksbühne Berlin unter dem Namen „Rekolonisation – Dehn/Gintersdorfer/ Klaßen“, das war von LSD gelabelt, und Jochen Dehn war danach nicht mehr dabei und dann blieb Gintersdorfer/Klaßen.

Monika Gintersdorfer: Zu dieser ganzen Szene gehörten auch Künstlerfreund*innen von Jochen und Knut, und wir hatten einen engen Kontakt zu einem Nachtclub, der häufig Coupé-Decalé-Künstler eingeladen hat, die entweder aus Paris oder aus Abidjan kamen. Zudem gab es eine starke ivorische Hamburg Connection und dann kam Franck Edmond Yao alias Gadoukou la Star dorthin und ich habe seine Show gefilmt und ihn darüber kennengelernt. Aus diesem Umfeld – das waren sehr viele Leute, die damals dabei waren – hatten eben auch viele Leute Anteil an unseren ersten Arbeiten. Mich beschäftigt dieses Thema mit den freien Gruppen, die lange zusammen sind, gerade sehr. Uns ist dann aufgefallen, dass es eine richtige Entscheidung für einen Gründungsakt in dem Sinne gar nicht gab, sondern es gab bestimmte Sachen, die man gemeinsam machen wollte, und dann war die Frage, auf welches Konto denn dann das Geld kommen sollte, die eher pragmatisch über eine Namensgebung der Gruppe entschieden hat.
Es war schnell klar, dass Franck dabei ist und kurz darauf haben wir Hauke Heumann am Theater Aachen kennengelernt, 1-2 Jahre später Gotta Depri in der Elfenbeinküste, Performer, die hier alle dabei sind. Wir haben sicher schon an die fünfzig Stücke zusammen gemacht, wir sind so etwas wie das Stammteam. Und Annick Choco, ebenfalls Coupé-Decalé- Künstlerin, die etwas kürzer als die anderen drei dabei ist.
Aber trotz allem ist es nicht so, dass wir offiziell so etwas wie eine Mitgliedschaft bescheinigt haben. Das ist alles gefühlt, empfunden und einfach so wie es ist. Ich bin glücklich über diese Konstellation, die wir hier in Wien haben. Einerseits ist es die Konstellation, mit der wir schon lange arbeiten, aber es kommen eben auch Nino und Natalie dazu, was gut passt. Ich meine das nicht im Sinne von Ähnlichkeit, sondern dass man aufeinander eingehen kann und es wechselseitig Impulse gibt. Manchmal blicken wir jetzt schon zurück und fragen uns: Was sind denn diese 15 Jahre und welche Ästhetiken haben wir ausgebildet und was bedeutet das für eine Gruppe? Auch das Prinzip, dass wir Zusammenarbeiten gesucht haben, wo wir einerseits dem treu bleiben, was unsere Gruppe ausmacht, das aber immer wieder herausfordern. In all den Jahren waren das dann Leute, die entweder mit choreographisch- tänzerischer Perspektive oder aus der Pop-Musik oder der Bildenden Kunst kamen – oder auch aus anderen Sparten wie der Internationale Rechtsprechung, die uns da immer weitergebracht haben.

Ein Großteil eurer Performer*innen kommt aus der Côte d’Ivoire. Regelmäßiges Übersetzen aus dem Deutschen und Französischen und umgekehrt ist seit Jahren sowohl Teil des Probenprozesses als auch Teil eurer Bühnenästhetik. Was sind eure Überlegungen dazu bzw. was bewirkt das? Unter Euch, beim Zuschauer?

Monika Gintersdorfer: Zunächst war das ein pragmatischer Vorgang, dass man nicht erst mal darauf warten muss, dass Leute eine Sprache erlernen müssen, bevor sie auftreten können. Dieses System erlaubt es einfach, dass man sofort loslegen kann. Ein anderer Aspekt war, dass wir uns auch von Beginn an für Live-Übersetzung auf der Bühne entschieden haben, ohne professionelle Übersetzer anzustellen oder eine Übertitelung vorzunehmen, damit das Übersetzen ein performativer Vorgang ist, den die Zuschauer*innen so miterleben. Und dann vielleicht auch mal miterleben, dass es einen Übersetzungsfehler gibt, oder dass nachgefragt wird. Auf den Proben ist das auch so, dass immer hin und her gewechselt wird. Heute war es beispielsweise zum ersten Mal so, dass wir beim letzten Durchgang Nino und Natalie gesagt haben: „Spielt viel, macht Einwürfe“ – und dann gab es plötzlich viel auf Deutsch, von dem Hauke jetzt nicht alles übersetzen konnte und die anderen sich fragten: „Worum geht’s da eigentlich gerade?“ Es wurde natürlich schon immer wieder hin und her übersetzt, aber es gibt dann auch wieder Proben, bei denen vor allem Französisch gesprochen wird und da müssen wiederum die anderen gucken, wie sie so mitkommen. Manchmal muss man aushalten, nicht alles zu verstehen auf den Proben. Für das Publikum machen wir eigentlich eine Service-Leistung, sodass sie so gut wie alles verstehen können. Je nach Spielort oder Land entscheiden wir, welche Sprachen es sein können, in denen das funktioniert.

Knut Klaßen: Zudem ist es ja eine Theaterform, die nicht mit Übertitelung funktioniert. Auf der Bühne wird frei gesprochen und gedacht. Nicht frei improvisiert, es werden ja Thesen geprobt, aber es gibt eben viel Freiheit. Wir haben beim Berliner Theatertreffen, wo wir mit „Othello c’est qui“ eingeladen waren, einen Versuch mit Übertitelung gemacht und das hat nicht funktioniert. Die Übereinstimmung war nicht da und das Live-Übersetzen ermöglicht diese Direktheit, die wir zeigen wollen.

Das Interview mit Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen ist ein Originalbeitrag für das Programmheft „GESCHICHTEN AUS DEM WIENER WALD“. Die Fragen stellten Hannah Lioba Egenolf und Susanne Graf.